Lesekompetenz ist eine Grundlage für den Erfolg von Bildung und damit für lebenslanges Lernen. Laut PISA-Studie steigt die Lesekompetenz deutscher Schüler und Schülerinnen. Der Anteil 15-Jähriger, die täglich zum Vergnügen lesen, verzeichnet ebenfalls einen Zuwachs. Betrachtet man die Lesekompetenz der Kinder und Jugendlichen jedoch im Einzelnen, werden große Unterschiede sichtbar. Der Leistungsabstand zwischen den Schülern liegt oftmals in der sozialen Herkunft begründet. Besonders benachteiligt sind Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Die Abhängigkeit der Leseleistung von der sozialen Herkunft hat sich zwar kontinuierlich verringert, ist aber laut PISA-Studie immer noch hoch. Deutschland gehört zu denjenigen Staaten, in denen die Unterschiede zwischen schwachen und starken Schülerinnen und Schülern am größten sind. Mädchen schneiden, wie auch in anderen OECD-Staaten, deutlich besser ab (PISA 2006).
Abhängig sind die Leseleistungen von den Sprachkompetenzen. Sie bilden damit eine Grundlage für eine gute Kommunikation. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist der Anteil der Kinder in Erfurt mit sprachlichen Auffälligkeiten beziehungsweise Sprachentwicklungsrückstand deutlich gestiegen. Etwa jeder fünfter Schulanfänger in Erfurt weist Sprachentwicklungsprobleme auf, die förderungs- oder behandlungsbedürftig sind (Kindergesundheitsbericht Erfurt, 2004). Daneben zeigen ungefähr zehn Prozent der Schulanfängerinnen und -anfänger Verhaltensauffälligkeiten, die oft mit psychomotorischer Unruhe, Wahrnehmungsdefiziten und Konzentrationsproblemen einhergehen, zu denen sich im Zeitverlauf oftmals dissoziales Verhalten mit Aggressivität und emotionalen Störungen einstellen. In der Untersuchung des Landesgesundheitsamtes Brandenburg zeigen etwa 15 Prozent der Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus Sprach-, Sprech- und Stimmstörungen, während nur 4,4 Prozent der Kinder aus Familien mit hohem Sozialstatus diese Störungen aufweisen. Ähnlich sind die Angaben für psychische Erkrankungen und emotionale/soziale Störungen: 4 Prozent bei sozial Schwachen gegenüber 2,2 Prozent bei hohem Sozialstatus und 3,8 Prozent bei sozial Schwachen gegenüber 0,4 bei hohem Sozialstatus (Landesgesundheitsamt Brandenburg, 2004). Es ist zu vermuten, dass sich die Zusammenhänge für ganz Thüringen ähnlich gestalten. Die Erfurter Kinder zeigen einen Anteil an Verhaltensauffälligkeiten zwischen 6,4 und zwölf Prozent.
Die Störung von einzelnen Grundfunktionen wie der Sprach- und Sprechfähigkeit verursacht mit hoher Wahrscheinlichkeit Lernprobleme und damit die Entwicklung von psychosomatischen Erkrankungen durch chronische Überforderung und Fehlbelastung. Für eine gesunde psychische Entwicklung ist die Ausprägung eines guten Selbstwertgefühls grundlegend. Das Selbstwertgefühl wächst durch Erfolgserlebnisse und positive Rückmeldungen. Anerkennung für gutes Lesen und Sprechen stärkt das Selbstvertrauen und ist bedeutend für die Schlüsselkompetenz Sprache. Die Verbesserung von schriftlicher und mündlicher Sprachkompetenz wirkt im Hinblick auf die Bildungschancen der Kinder und Jugendlichen sozialkompensatorisch. Demgegenüber ist das Lesen in der Freizeit ein wirksames Mittel, um Benachteiligungen zu überwinden, die mit der sozialen Herkunft einhergehen. Der Lesemotivation kommt daher eine Schlüsselrolle zu.
Der Verbesserung der Sprach- und Lesekompetenz und der Erhöhung der Lesemotivation widmet sich das Projekt Mentor - Die Leselernhelfer. In dieser Initiative von Freiwilligen engagieren sich hauptsächlich Seniorinnen und Senioren, Vorruheständlerinnen und Vorruheständler. Trägerverein ist der Schutzbund der Senioren und Vorruheständler Thüringen e. V., Stadtverband Erfurt. Organisiert wird das Projekt Mentor durch das dem Trägerverein angegliederte Kompetenzzentrum für aktive Senioren und bürgerschaftliches Engagement.
Das Kompetenzzentrum ist ein Kontakt-, Beratungs- und Informationsbüro für Bürgerinnen und Bürger aller Generationen, die ein Ehrenamt ausfüllen und anderen damit helfen wollen. Besonders Menschen ab 50 Jahren sollen hier zu einem sozialen Engagement sowie zum Erhalt und zur weiteren Aktivierung erworbener Erfahrungen, Fähigkeiten, Qualifikationen und Interessen motiviert werden. Das Kompetenzzentrum ist an die Bundesarbeitsgemeinschaft Seniorenbüros e. V. Bonn (Bas e. V.) angeschlossen und wird von der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freiwilligenagenturen e. V. Berlin (bagfa e. V.) wissenschaftlich begleitet.
Ausgangspunkt des Projektes war 2004 die Initiative einer Seniortrainerin im Schutzbund der Senioren und Vorruheständler Thüringen e.V., Stadtverband Erfurt. Die Initiative stand unter dem Motto „Alt für Jung – ein Plus für alle“.
Die ehrenamtlich tätigen Leselernhelferinnen und -helfer sind überwiegend in Grundschulen in sozialen Brennpunktgebieten tätig und arbeiten ausschließlich mit sozial benachteiligten Kindern und Jugendlichen zusammen. Etwa 25 bis 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler haben einen Migrationshintergrund – sie stammen aus türkischen, pakistanischen, tschechischen, russischen und vietnamesischen Familien. Die Beschränkung auf die Zielgruppe sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche hat zwei Hauptgründe. Zum einen soll so eine Konkurrenzsituation zu Nachhilfelehrern und -lehrerinnen vermieden werden, zum anderen sollen nur Kinder und Jugendliche erreicht werden, deren Familien sich eine Nachhilfe nicht leisten können. Hauptziel ist die Verbesserung der Sprach- und Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler, aber auch die Erhöhung des Selbstbewusstseins. Der Zeitaufwand für den einzelnen Leselernhelfer beträgt dabei ca. zwei bis drei Stunden pro Woche. Die Senioren und Vorruheständler arbeiten mit den Kindern und Jugendlichen eigenverantwortlich. Dabei wird großer Wert darauf gelegt, dass die Schüler ohne den üblichen Schulleistungsdruck arbeiten. Das Projekt macht eine bessere individuelle Förderung der Schülerinnen und Schüler möglich. Der Zeitraum, in dem die Lesestunden stattfinden, erstreckt sich über mindestens ein halbes Jahr.
Im Projekt sind mittlerweile mehr als 45 Mentorinnen und Mentoren tätig, die ca. 115 Lesekinder und 5 Jugendliche in 14 Erfurter Schulen betreuen. Der Bedarf und die Nachfragen steigen. Händeringend werden weitere Interessierte gesucht. Zu Beginn des Projektes 2003 waren gerade drei Mentoren tätig. Ursprünglich wurde diese Projektidee durch eine Seniortrainerin aus Hannover übernommen. Sie informierte das Kompetenzzentrum für aktive Senioren über das Projektanliegen mit dem Vorschlag zur gemeinsamen Umsetzung. Seit dem Projektstart wurde das Leselernprojekt kontinuierlich weiterentwickelt und die Bildung eines Leitungsteams wurde notwendig. Das Leitungsteam setzt sich aus zwei ehrenamtlich tätigen Mitarbeiterinnen zusammen – einer ehemaligen Sonderschulpädagogin und einer Seniortrainerin –, die selbst als Leselernhelferinnen tätig sind. Aus einem Gebiet der Sozialen Stadt, einem Wohngebiet mit hoher Arbeitslosigkeit und hohem Ausländeranteil, fanden die Akteure eine aufgeschlossene Projektpartnerin – die Johannesschule. Das Leitungsteam hält regelmäßigen Kontakt zu den Schulen, in denen das Projekt stattfindet. Die Seniorinnen und Senioren entscheiden sich nach einem ausführlichen Gespräch, ob sie am Projekt teilnehmen möchten. Nach dem Einführungsgespräch assistieren sie zunächst bei anderen Leselernhelfern. Später arbeiten sie selbstständig mit der Zielgruppe.
Seit circa einem Jahr sind nicht mehr nur Grundschüler als Lesekinder im Projekt, sondern auch 5 Schüler bis zur Klassenstufe zehn.