Die Gesundheitsetage befindet sich mitten in Kreuzberg, einem der ärmsten Stadtteile Berlins mit einer überproportional hohen Anzahl von ALG II-Empfängerinnen und -empfängern, allein Erziehenden und einkommensschwachen Familien. Friedrichshain-Kreuzberg hat die höchste Einwohnerdichte aller Berliner Bezirke von 133 Einwohner/innen je Hektar (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2008a), weist mit 7 auf einer Skala von 1 bis 7 den schlechtesten Sozialindex auf (Bandelin, 2005) und ist bezüglich der Erwerbslosenquote und des Einkommens in Berlin am stärksten belastet (Bandelin, 2003).
Genutzt wird die Gesundheitsetage von Frauen aus den Stadtteilen Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Neukölln, welche sich durch einen hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund auszeichnen. In Friedrichshain-Kreuzberg liegt der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund bei 36,6 Prozent (Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, 2008b). Laut Sachbericht der Gesundheitsetage nutzten 2006 insgesamt 1185 Frauen (davon 790 Frauen mit Migrationshintergrund) die Angebote der Gesundheitsetage, wovon 721 Frauen auf ALG II angewiesen waren.
Gut die Hälfte der Nutzerinnen hat einen türkischen Migrationshintergrund, je etwa ein Fünftel stammt aus Deutschland und aus anderen Ländern (arabisch, lateinamerikanisch und andere).
Das Leben in verschiedenen kulturellen Lebenszusammenhängen erfordert besonders für Frauen mit Migrationshintergrund ein hohes Maß an psychischer Energie und Auseinandersetzung. Normen, Werte, Sitten und religiöse Weltanschauungen des Heimatlandes differieren von denen der deutschen Gesellschaft. Die psychische Belastung wird durch die Generationsunterschiede in den Familien noch erhöht. Hinzu kommen Schwierigkeiten mit Ämtern und Behörden wie auch zum Teil aufenthaltsrechtliche Probleme. Folgen der Migration wie Akkulturationsprozesse und Ungleichbehandlung erhöhen mögliche gesundheitliche Schwierigkeiten. Die Frauen sind es nicht gewohnt, Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch zu nehmen, und kennen die hiesigen Angebote der Gesundheitsprävention nicht. Die Mitarbeiterinnen der Gesundheitsetage haben die Erfahrung gemacht, dass viele Frauen mit türkischer und arabischer Herkunft einen unzureichenden Zugang zu Gesundheitsthemen haben. Daher ist eine Prävention hinsichtlich zahlreicher Beschwerden, auch wegen Chronifizierungsgefahren, notwendig, die kultursensibel auf die Bedürfnisse der Frauen mit Migrationshintergrund abgestimmt ist.
Zur gesundheitlichen Lage:
Die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Neukölln und Mitte, aus denen der Großteil der Nutzerinnen stammt, gehören zu den Bezirken mit dem höchsten Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Familien weisen eine höhere soziale Benachteiligung der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf, was an unterschiedlichen Beschwerdemustern und Krankheitsdaten sowie dem Gesundheitsverhalten deutlich wird.
Man nimmt an, dass ein Migrationshintergrund Einfluss auf die Gesundheit der Betroffenen hat: Dieser kann sich einerseits auf das Risiko auswirken zu erkranken. So sind beispielsweise Frauen mit Migrationshintergrund oft Mehrfachbelastungen ausgesetzt, etwa durch ungünstige Arbeitsbedingungen, Anforderungen in der Familie und Anpassung an eine fremde Kultur, die zu erhöhter gesundheitlicher Belastung führen können. Andererseits kann ein Migrationshintergrund die Chance beeinträchtigen, eine adäquate Therapie zu erhalten, wenn beispielsweise Probleme mit der deutschen Sprache bestehen (Robert Koch-Institut in Zusammenarbeit mit dem Statistischen Bundesamt, 2008).
Zur psychosozialen und sozialen Situation der Zielgruppe:
Die Nutzerinnen der Gesundheitsetage sind zu über 80 Prozent sozial benachteiligte Frauen, die über ein unterdurchschnittliches Haushaltseinkommen verfügen und auf ergänzende Transferleistungen angewiesen sind. Häufig leben sie zudem in schlechten Wohnverhältnissen und haben ein niedriges Bildungsniveau. Diese gesundheitsgefährdenden Faktoren erhöhen die ungleichen Gesundheitschancen. Hinzu kommen noch die migrationsbedingten körperlichen und seelischen Belastungen wie beispielsweise der Integritätsverlust, Diskriminierungserfahrungen oder zerrissene Familienkonstellationen. Das Vermeiden und Unterdrücken ihres emotionalen Erlebens führt bei den Frauen häufig zu körperlichen Reaktionen und Beschwerden, die sich im Laufe der Jahre summieren.
Da die bereits bestehenden präventiven und gesundheitsfördernden Maßnahmen der öffentlichen Einrichtungen von Migrantinnen aufgrund von kulturellen und sozioökonomischen Barrieren jedoch kaum wahrgenommen werden, ergab sich hier ein spezifischer Handlungsbedarf. Die Gesundheitsetage wurde aus diesem Bedarf heraus konzipiert und setzt durch ihre niedrigschwellige, frauenspezifische und kultursensible Vorgehensweise genau an den persönlichen Bedürfnissen, gesundheitlichen Interessen und Voraussetzungen der sozial benachteiligten Frauen mit Migrationshintergrund an. Da der Bedarf der Zielgruppe über reine Gesundheits- und Bewegungsangebote wie beispielsweise Rückenschule oder Beckenbodengymnastik hinausgeht, schafft die Gesundheitsetage den benötigten Raum für intensive Gespräche, Informationen und Erfahrungsaustausch. Sprachliche Defizite erschweren Arztbesuche und behindern somit die Aufklärung. Hier wird deutlich, dass Frauen und Mädchen mit Migrationshintergrund mehrsprachige Informations- und Aufklärungsveranstaltungen und Materialen über die Entstehung, Behandlung und Prävention von Krankheiten und Beschwerden brauchen. Dies haben auch die Nutzerinnenbefragungen der Gesundheitsetage gezeigt.
Die Einrichtung ist als frauenspezifischer Raum bzw. als frauenspezifische Struktur angelegt. Auch streng gläubigen und traditionell orientierten Frauen und Mädchen wird der Zugang möglichst leicht gemacht und die Möglichkeit eingeräumt, ihre individuellen Bedürfnisse ohne Einschränkungen zu artikulieren und durchzusetzen.